Besuch der Ratssitzung am 4.03.2010


Donnerstag, 4.3.2010, 19:10 Uhr.
Ich setze mich ins Auto. Ich will zur Sitzung des Gemeinderats in Scheessel.
Heute soll der Haushalt 2010 verabschiedet werden. Dem Bürger soll einiges abverlangt werden. Diverse Leistungsverzichte der Gemeinde soll er mit Steuererhöhungen belohnen. Ich bin gespannt, ob heute viel Zuschauer kommen und wie die Sitzung verlaufen wird.

Vor dem Rathaus steht eine Gruppe Westerholzer Bürger mit einem Plakat. Ihr Kindergarten soll 2011 geschlossen werden. Das lasen sie in der Zeitung. Nun appellieren sie mit einem Plakat an die Vernunft der Abgeordneten.

Der große Sitzungssaal im 1. Stock des Rathauses ist fast gefüllt. Die meisten Ratsmitglieder sitzen schon. Um die 30 Zuschauer haben sich eingefunden. Es herrscht eine irgendwie feierliche Stimmung. Ich werde ans Foyer eines Theaters erinnert. Alle sprechen leicht gedämpft. Die Zuschauer tuscheln und schauen ehrfurchtsvoll auf ihre Regierung. Die Ehrfurcht kommt nicht von ungefähr: alle Ratsmitglieder haben sich in Schale geworfen. Heute tagt kein stinknormaler Ausschuss, in den man in Jeans geht. Heute ist Anzug angesagt. Auch die Bürgermeisterin und ihr Beistand aus der Verwaltung haben in den hintersten Winkel des Kleiderschranks gegriffen. Der Vertreter der Bürgermeisterin kommt ganz in schwarz. Heute wird die freiheitliche Bestimmung über die Gemeindefinanzen beerdigt. Danach kommt die Kommunalaufsicht.

Der Vorsitzende ergreift das Wort. Ein älterer Herr mit großer Gelassenheit.
Er stellt die Beschlussfähigkeit des Rates fest. Wie oft er wohl gezählt hat, ob auch alle da sind. Oder geht er davon einfach aus?
Dann erklärt er die Bürgerfragestunde für eröffnet, allerdings nicht ohne erklärende Hinweise zur Geschäftsordnung: wer eine Frage hat, möge sich melden. ("Wie in der Schule" hat er nicht gesagt.) Wenn er das Wort erhalte, möge er aufstehen und seinen Namen nennen. (Aus dem Namen wird vermutlich auf die Bedeutung der Frage geschlossen.) Dann möge er seine Frage stellen.

Ich erinnere mich wieder ans Theater. Durch den Schlitz des Vorhangs tritt einer vors Publikum und erklärt, dass es nun gleich los ginge. Aber vorher kann sich jeder noch etwas bei der Bedienung bestellen. Sie haben allerdings nur nicht-alkoholische Getränke.

Ich reiße mich zusammen und beobachte die Zuschauer. Die Westerholzer Kindergartenverteidiger werfen sich Blicke zu. Wer wirft den ersten Stein?

Eine Frau gibt sich einen Ruck und meldet sich. Der Vorsitzende erteilt ihr freundlich lächelnd das Wort. Und nun geht's los. Die ganze Empörung muß in eine respektvolle Frage gekleidet werden. Die Anspannung ist spürbar. Am liebsten würde sie sagen:
"Was fällt euch -- Zungenbiss -- eigentlich ...", aber dann sagt sie:
"ich wollte mal wissen, wie ...".

Und so erhält sie eine ebenso höfliche Antwort. Nicht vom Vorsitzenden.
Die Bürgermeisterin steht auf, nennt nicht ihren Namen und plaudert munter los.

Ich erinnere mich an Wahlkampfreden. Die Sorgen der Bürger habe man zur Kenntnis genommen. Man habe auch gerade eben in einer Sitzung des Verwaltungsausschusses einen Beschluss gefasst. Man spürt, die Tinte unter diesen Beschluss ist noch nicht trocken.
Sie fährt fort: man werde den Kindergarten -- natürlich nur, wenn nötig !! --, und sowieso nicht vor dem 1.8.2010 (was wegen des laufenden Betriebs auch gar nicht geht), und auch nur nach Rücksprache mit dem Ortsrat und nur nach Sicherstellung, dass alle Kinder in einem ortsnahen anderen Kindergarten unterkommen, wobei !! : ortsnah ist nicht weit weg -- also nur dann werde man den Kindergarten jetzt im Sommer schließen. Sonst ganz sicher später.

Die Einwohnerin ist nur unvollkommen überzeugt. Sie stellt die Frage etwas anders.

Nun erhebt sich der Fraktionsvorsitzende, knöpft sein Jackett zu, nennt seinen Namen und antwortet der Bürgerin. Diese hört gespannt zu. Auf sie kommt gerade das gleiche Gesäusel zu, nur dieses Mal aus einem Anzug.

Ein anderer Bürger greift die Frage auf...
Ich will es kurz machen: es kommt immer dasselbe heraus: Der Kindergarten wird nicht dicht gemacht, es sei denn, er wird geschlossen.

Was ich zu dem Zeitpunkt noch nicht weiß: bei den anschließenden Wortbeiträgen der Lokal-Abgeordneten meint einer, an die Einwohner gewandt: die CDU wird den Kindergarten schließen, spätestens nach der Wahl im nächsten Jahr. Nur Einwohnerengagement hielte den Kindergarten am Leben.

Der Vorsitzende moderiert die Sitzung souverän. Nicht wie Thomas Gottschalk, der nur mit einer Backe auf seinem Sofa sitzt und stets an seine Selbstdarstellung denkt. Nein, der Vorsitzende belegt mit dem ganzen Gewicht seines Amtes die gesamte Sitzfläche. Der Stuhl ist schließlich ganz bezahlt. Die Beine verschränkt, stets ein Lächeln auf den Lippen und die Uhr (eine Art Bahnhofsuhr an der seitlichen Wand) fest im Blick. Er weist die Einwohner darauf hin, dass man noch eine lange Tagesordnung abarbeiten müsse und die Zeit voranschreite. Er blockt keine Frage ab, erreicht aber, dass sich jeder überlegt, ob seine Frage denn so wichtig sei, diese ungemein wichtige Sitzung in ihrem Lauf aufzuhalten.

Nun eröffnet er die Sitzung. Ein Einwohner weist seine Nachbarin darauf hin, dass sie für den Rest der Sitzung den Mund halten müsse. Staunen, ja fast Entsetzen breitet sich auf deren Gesicht aus.

Vorne beginnt der erste Akt. Formalien Teil 1. Die Tagesordnung muss genehmigt werden, 2 Protokolle von vergangenen Sitzungen müssen abgesegnet werden. Hei, da kommt Stimmung in die Bude.
Einer sagt, so ginge das nicht. Einfach 3 Tage vor der Sitzung die Tagesordnung erweitern. Und im Protokoll wird gelogen. Zustimmung verweigert. Peng.

Da springt ein anderer auf. Diese Art von Diskussion mag er gar nicht. Er will hier Sacharbeit leisten. Doppelpeng!

Die Wogen glätten sich. Es wird abgestimmt. Die Mehrheit gewinnt.

Nun geht es um Umbesetzungen im Gemeinderat und in etlichen Ausschüssen. Einer hat hingeschmissen. Stand in der Zeitung. Das zählt nicht. Hier werden Fakten geschaffen.
Der Ersatzmann, nein: der Neue -- nein, wie drückten sie sich noch aus? Richtig: der Nachrücker wird verpflichtet. Die Bürgermeisterin gibt ihm eine Mappe und erklärt, was da drin ist. Damit er zu Hause nachschauen kann, ob er was verloren hat. Und dann ermahnt sie ihn noch:
"Üb immer Treu und Redlichkeit" oder so ähnlich.

Jetzt kommen ein paar Satzungsbeschlüsse. So werden die Nutzungsgebühren der Bücherei erhöht. Die Satzung ist fertig, sie gilt ab morgen und wird einstimmig beschlossen.

Hm... Der Haushaltsplan wird erst in wenigen Minuten verabschiedet, oder auch nicht. Kommt auf die Abstimmung an.

Und wenn nicht? Wird die Satzungsänderung wieder kassiert? Hätte wohl in anderer Reihenfolge abgestimmt werden müssen?

Na ja, es geht nun zu den Abstimmungen um den Haushalt.

Der Vorsitzende des Finanzausschusses ergreift das Wort. Am Stehpult. Jackett schnell geschlossen.

Formvollendete Anrede: Verehrte Königin, hohes Haus, Dorfdeppen. Nett, dass ihr alle da seid.
Oder so ähnlich.

Der pastorale Ton des sich am Pult festhaltenden Fachmanns erinnert mich an meine Studienzeit und den Professor, der in eintönigem Singsang schwierigste Themen verkündete, allerdings nach Fragen zu den Ausführungen in dem von ihm verfassten Fachbuch keine Antwort wusste.

Der Haushalt sei genau so bitter wie nötig. Die Gratwanderung sei perfekt gelungen. In Zeiten knapper Kassen müsse man den Gürtel enger schnallen.

Wie sagte Herr Blüm, unser ehemalige Bundesrentenversicherer:

"Alle sind sich einig, dass der Gürtel enger geschnallt werden muss. Aber jeder fummelt an der Hose seines Nachbarn herum."

Der Finanzier beschließt seine Rede mit einem "Glück auf" und "Gott befohlen" mit mutigem Blick Richtung Kommunalaufsicht.

Der folgende Redner korrigiert ihn. Statt von Kommunalaufseher sei von Sparkommissar zu reden.
Er legt Zahlen über die Verschuldung von Gemeinden vor. Alle sind deutlich tiefer verschuldet als dieser Ort. "Wenn der Sparkommissar Langeweile hat, soll er sich doch erst mal um die kümmern. Was will der eigentlich hier?"

Er schaut die Bürgermeisterin herausfordernd an. Aber deren ausdrucksloses Gesicht läßt für die nächsten zwanzig Minuten keine Antwort erwarten. Sie ist ausgepowert. Bei den Einwohnerfragen, die der Moderator im lässigen Sitzen zuließ, spielte sie schon Stehaufmännchen. Anschließend die Bürde, einen Neurätler richtig in die Pflicht zu nehmen. Da hat sie sich völlig verausgabt.

Der Redner erklärt mit Schmackes, warum er jedenfalls diesem Haushalt nicht zustimme.

Es folgt eine Rednerin, die dem Rat Vorwürfe macht, in der Vergangenheit vieles falsch gemacht zu haben.

Ich schaue in die Gesichter der Ratsmitglieder -- leider nur schräg von der Seite möglich. Die machen ein Gesicht, als seien sie gerade gelobt worden und wären zu gut erzogen, um sich ihre Freude darüber anmerken zu lassen.

Die nächste Rednerin erzählt viel. Es geht um Kröten, die mehr oder weniger fett geschluckt werden müssten und zum Teil im Hals festsäßen.
Ein Ratsmitglied in der hinteren Reihe dreht sich zu den Zuschauern um, grinst abfällig und schüttelt vielsagend den Kopf.

Er schreitet anschließend selbst ans Pult. Nun, denke ich, kommt dann wohl etwas Besseres. Wer sich so abfällig gegenüber Kollegen, seien sie auch aus einer anderen Partei, benimmt, der zeigt es nun allen.

Aber wie es so ist: Hoffen und Harren hat Manchen zum Narren. Er philosophiert über Politik in schwierigen Zeiten. Der Bericht scheint aus den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts zu sein. Die "Erkenntnisse" sind jedenfalls überholt.

Die letzten beiden Redner lehnen den Haushalt ab, weil er die Bürger überfordere. Höhere Einnahmen müsse man nicht erzielen, indem man anderen frech in die Tasche greife. Man müsse mehr tun, um den Ort attraktiv zu machen, damit Auswärtige kommen und hier ihr Geld lassen.

Auch diese Worte musste man eigentlich als deutliche Kritik verstehen. Die Damen und Herren machten jedoch ein Pokerface.

Nun ging es zur Abstimmung über höhere Steuern und die Verabschiedung des Haushalts.
Und das bei vorgerückter Stunde. Das Sitzungsende der Geschäftsordnung, 22:30 Uhr, war deutlich überschritten.
Ein Ratsherr wollte daher vertagen. Andere wollten weitermachen. So beschloss man, abzustimmen, ob für den Augenblick die Geschäftsordnung gelten solle oder nicht? Mehrheitlich setzte man die Geschäftsordnung außer Kraft.
"Wo bin ich denn hier?" Mit diesen Worten verabschiedete sich ein Ratsherr.

Ich stelle mir ein Bundesligaspiel vor. Die Heimmannschaft liegt kurz vor Schluss mit 0:7 zurück. Da gelingt ihr doch noch ein Tor, allerdings aus einer klaren Abseitsposition heraus.
Nun läßt der Schiedsrichter die Spieler darüber abstimmen, ob man in diesem Falle die Abseitsregel aufheben wolle und das Tor gelten lassen wolle, damit die Heimmannschaft nicht mit ganz so leeren Händen dastünde.
Das hätte schon was.

Also frisch zur Tat: Abstimmung.
Bisher hatten sich von der Opposition pro Partei jeweils mehrere zu Wort gemeldet. Von der CDU nur der Ratsvorsitzende als Moderator, der Fraktionsvorsitzende und der Finanzsenator. Jetzt kam endlich die Zeit für das Stimmvieh, die CDU-Mehrheitsbeschaffer. Nach anstrengender Wartezeit im Ruhestand kam ihre Stunde.

Das Ergebnis der Abstimmung festzustellen ist immer einfach, wenn einstimmig abgestimmt wird.
Heute ist alles irgend wie schwieriger.
"Wer ist dafür? Hand hoch! -- eins, zwei, drei, murmel, murmel,..."
"Wer ist dagegen? Hand hoch! -- eins, zwei, drei, vier, fünf. -- fünf. -- vier -- Nee, fünf. Noch mal."
"Wer ist dagegen? Hand hoch! -- eins, zwei, drei, vier, fünf. -- fünf. -- vier, wo siehst Du denn den fünften? -- Noch mal."
"Wer ist dagegen? Hand hoch! -- eins, zwei, drei, vier. Gut, vier."
"Wer enthält sich der Stimme? Hand hoch! -- eins, zwei, ..."
"Wer ist dafür? Hand hoch! -- Das hatten wir schon! -- Ach so."

Die nächste Abstimmung.
"Diesmal machen wir das mal anders rum. Wer ist dagegen? Hand hoch! -- eins, zwei, drei, ..."
"Wer ist dafür? Hand hoch! -- eins, zwei, drei, murmel, murmel,...
wieviel waren das nun noch mal? -- Behrens, wieviel waren das?"

Der Stellvertreter der Bürgermeisterin kommt erkennbar aus dem Tiefschlaf, grinst verlegen.
Und schon wird das Abstimmungsergebnis zu Protokoll genommen. Unter den Zuhörern rumort es. Man will wissen, wie abgestimmt wurde. Da ist man schon bei der nächsten Abstimmung.
Eine Ratsherrin aus den hinteren Reihen hört die Zuschauerfragen und fordert den Rat auf, das Ergebnis noch mal zu nennen.

Die Protokollführerin nennt das Ergebnis. Ob es stimmt?

Noch ein Punkt der Tagesordnung, dann ist es geschafft.
Doch hierbei redet plötzlich alles durcheinander. Der Stellvertreter der Bürgermeisterin, vom abrupten Wecken noch nicht erholt, brüllt nach Cholerikerart die Ratsmitglieder an und bringt den Kindergarten wieder in ruhiges Fahrwasser.

Geschafft. Der Vorsitzende bedankt sich bei den Zuschauern für deren Ausdauer. Aber, leider -- so fügt er hinzu -- gibt es jetzt noch einen nicht-öffentlichen Teil.
"Wir müssen noch etwas."

Als ich das Rathaus verlasse, fällt mir wieder ein, dass die Bürgermeisterin voll Stolz ausdrücklich betonte, dass heute die Toiletten offen sind. Gemeint sind die öffentlichen Toiletten im Keller des Rathauses, die von außen zugänglich sind.
Es muss 2001 gewesen sein, als die Bürgermeisterin in der Presse erklärte, dass die Sanierung der Toiletten höchste Priorität habe und schnellstens in Angriff genommen werde.
Nun ja, gut Ding will Weile haben. Ich entschließe mich zu einem Abstecher.
Die Außenbeleuchtung ist dunkel. Sie ist immer sonntags nach dem Kirchgang, also am hellichten Tag, angeschaltet. Aber jetzt rechnet ja auch keiner mit geöffneten Toiletten, zumal das Rathaus ja offen ist. Ich gehe die Treppe hinunter. In den Vorraum scheint es schwach von der Straßenlampe am Bürgersteig. Ich traue mich hinein. Plötzlich geht Licht an. Ein Tisch und zwei Stühle rücken ins Blickfeld. Man kennt sie aus den Vorräumen der Toiletten in den Autobahn-Raststätten. Der Teller mit etwas Geld fehlt allerdings. So schlecht scheint es der Gemeinde nicht zu gehen, wenn sie auf diese Einnahmequelle verzichten kann.
Ich öffne den Raum zu den Toiletten. Meine Hände suchen im Dunkeln einen Lichtschalter.
Da ich keinen finde, halte ich die Tür offen und gehe einen Schritt hinein. Da erschrickt sich der Bewegungsmelder. Das Licht geht an, erst flackernd, dann hartnäckig konstant. Die Anlage mutet eher nach einer Katakombe als nach einer sanitären Einrichtung.
Toilettenpapier ist da. Der Papierspender am Waschbecken ist leer. Man rechnet offenbar nicht damit, dass sich hier jemand die Hände waschen will.

Ich verlasse die Gruft gerade rechtzeitig, um den Schwall der aus dem Rathaus drängenden Sitzungsteilnehmer beobachten zu können.

Alkohol und Gesang liegen in der Luft.

Die Verabschiedung des Haushalts kann man wohl nur besoffen beenden.

So mache ich mich auf den Heimweg, um ein politisch-kulturelles Spektakel reicher, kostenlos und mit Verlängerung. Was will ich mehr?

Ernst Friesecke




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